Luise Brosig (11/5) gewinnt einen der Hauptpreise
Sie nahm das Kärtchen mit der Ankündigung des Literaturwettbewerbes in Hessen und Thüringen, sandte wie auch 600 andere Teilnehmer zwischen 16 und 25 Jahren ihre Texte ein und wurde zur Preisverleihung im April nach Wiesbaden eingeladen! Dort verkündete und ehrte das Ensemle des Hessischen Stattstheaters die Preisträger.
Luise, deine Texte wurden in einem Buch veröffentlicht (ein Exemplar wird in der Schulbibliothek stehen)! Wir sind stolz auf dich und gratulieren ganz herzlich!
Kathrin Heinrich
Eingereichte Beiträge von Luise Brosig:
Folge. Verblasst. Blicke
Folge
Die Uhr tickt.
Eins. Zwei. Drei. Sekunden.
Wie hypnotisiert folgt sie dem Sekundenzeiger mit ihren
Augen. Solange sie ihm folgt, muss sie nicht denken. Muss
sich nicht belasten.
Sorge. Furcht. Angst.
Sie würden sie überfluten. Sie lähmen.
Lieber hört sie der Uhr zu. Die Stetigkeit des Tickens beruhigt.
Sie verspricht Sicherheit. Sicherheit, die sie braucht.
Benötigt. Fast schon liebt.
Sie beginnt sich vollkommen auf das Geräusch einzulassen.
Konzentriert sich darauf.
Nur ihr Blick kreist unruhig mit dem Zeiger. Der Rest von
ihr lauscht, bis das Ticken alles andere übertönt.
Vier. Sechs. Sieben. Sekunden.
Sie denkt nicht mehr an die Welt. Folgt dem Zeiger. Es ist
leichter, weiß sie. Ist sicherer, denkt sie. Macht freier, glaubt
sie.
Dann schließen sich ihre Augen.
Fast wie von selbst.
Eingeschläfert vom langsamen, gleichmäßigen Geräusch
der Uhr.
Verschlossen vor der Welt da draußen. Vor Angst. Neuem.
Freiheit?
Acht. Neun. Zehn. Sekunden.
Verblasst
Ich hauche an die Fensterscheibe. Mein Atem lässt sie beschlagen.
Fast wie von allein zeichnet mein Zeigefinger geschwungene
Buchstaben. Auf der Scheibe prangt nun in Großbuchstaben
mein Name.
Ich blicke hinaus auf die Straße. Von der Dunkelheit durch
das Glas getrennt. Nur die alten Straßenlaternen beleuchten
verschiedenste Gestalten.
Für sie ist mein Name spiegelverkehrt. Verdreht. Falsch.
Langsam verblassen die Buchstaben und die Umrisse
draußen werden unscharf.
Nach einer Weile ist mein Name ganz verschwunden.
Nicht mehr sichtbar für mich. Auch nicht für andere. Nicht
für die draußen. Für keinen.
Er ist fort.
Ein kleines Mädchen rennt auf der anderen Seite zur
Scheibe. Ihre Gummistiefel sind dreckbeschmiert. Verschmutzt
von Schlamm und Pfützen.
Sie haucht. Auch ihr Atem kondensiert am Fenster.
Winzige Finger schreiben zitternd vier Buchstaben an die
Scheibe.
A-N-N-A.
Ich stehe auf und gehe fort.
Auch Anna wird verblassen
Blicke
Der kleine Tisch in der Mitte des Raumes ist wie immer frei.
Keiner setzt sich in die Mitte. Keiner setzt sich freiwillig
genau in den Mittelpunkt der Blicke.
Ich werfe meinen Mantel auf den Stuhl mit der zerkratzten
Lehne. Schon sind sie da. Die Blicke.
Sie zieht sich aus, denken sie. Sie bemerkt nicht, dass ich
sie anschaue, glauben sie. Sie wartet auf jemanden, vermuten
sie.
Aber nur der Kellner spricht mich an. Die Blicke sind feige.
Beobachten, Träumen, Wünschen.
Trauen sich nicht.
Schätzen das Risiko ein. Bewerten. Kommentieren mit
den Augen. Stellen Erwartungen:
Ich will sie nicht erfüllen.
Nur die des Kellners – »Kaffee wie immer für mich, bitte.«
Im Spiegel an der Wand sehe ich das Lächeln meiner Lippen.
Ein schöner Tag zum Warten.
Worauf?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht auf die Blicke. Vielleicht darauf aufstehen zu
können. Zu gehen.
Die Blicke können mir nichts befehlen.
Luise Brosig, 1998 in Weimar geboren, besucht die elfte
Klasse des Angergymnasium Jena.